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Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts und der Untergang des Königreichs Hannover

Es schien, als wären auf dem Wiener Kongreß Konflikte abgebaut worden. Nur vier Staaten waren im niedersächsischen Raum übriggeblieben. Das kleine Schaumburg Lippe hatte durch geschicktes Lavieren, z. B. durch rechtzeitigen Beitritt zum napoleonisch orientierten Rheinbund, seine Selbständigkeit erhalten können. Vorbei waren etwa die aktenfüllenden Territorialstreitigkeiten zwischen Hessen und Hannover. Es schien auch, als würde durch den Gebietsaustausch die latente Rivalität zwischen Preußen und Hannover ein Ende nehmen, eine Rivalität, die 1702 ihren Anfang nahm, als Preußen die Niedergrafschaft Lingen erwarb, und die sich verstärkte, als 1707 die Grafschaft Tecklenburg und 1744 schließlich Ostfriesland preußisch wurden. Diese latente Rivalität im regionalen Rahmen sollte im 19. Jahrhundert eine nationale Komponente erhalten: Ziel der hannoverschen Politik mußte es sein, neben dem preußisch österreichischen Dualismus die sogenannte Trias Idee zur Geltung zu bringen, die Eigenständigkeit der deutschen Mittelstaaten in die Lösung der nationalen Frage einzubringen. So wurde 1834/37 in Konkurrenz zum preußischen Zollverein der "Steuerverein" gebildet, ein allerdings nur kurzlebiger Versuch eines gemeinsamen Marktes der Länder Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe, der späteren Traditionsländer Niedersachsens.

Niedersachsen nach dem Wiener Kongreß.
Abb. 18: Niedersachsen nach dem Wiener Kongreß.

Die Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts, die Gegensätze zwischen monarchischem Prinzip, Konstitutionalismus und Liberalismus in seinen vielfältigen Schattierungen, spitzten sich in Nordwestdeutschland mit einer Ausnahme nicht so zu wie anderswo.

Mit kluger Geschicklichkeit taktierten die Oldenburger Fürsten, vorsichtige Öffnung (gewitzigt durch Unruhen des Jahres 1830) versuchten die Braunschweiger. Hannover jedoch wird vielfach – bei aller unbestritten vorbildlichen Rechtspflege – als Hochburg der Reaktion in Deutschland verschrien. Das lag nicht zuletzt an einem spektakulären, die liberale deutsche Öffentlichkeit zutiefst empörenden Vorgang des Jahres 1837. Mit der Auflösung der Personalunion verkündete der neue König Ernst August, bereits in England als Hochtory bekannt, ein neues, dem monarchischen Prinzip verpflichtetes Staatsgrundgesetz. Den Protest von sieben Göttinger Professoren – unter ihnen die Gebrüder Grimm – beantwortete er mit deren Entlassung. Auf die Unruhen des Jahres 1848 reagierte Ernst August jedoch mit dem englischen Rezept, den Wortführer der oppositionellen Kräfte im Lande, Johann Bertram Stüve, als Innenminister zu berufen und damit die Wogen zu glätten. Sein Nachfolger jedoch, der blinde König Georg V., steuerte einen immer stärkeren konservativen Kurs, auf den sein mystisch aufgeladener Begriff vom Königtum abfärbte. Aus diesem Denken heraus konnte er, an der alten Trias Idee festhaltend, in der Bundeskrise von 1866 nicht auf das preußische Ultimatum in Art seines Braunschweiger Verwandten reagieren. ("Ich habe an mein Land gedacht", so soll Herzog Wilhelm gesagt haben, "ducken, ducken, ducken") im verzweifelten Versuch, eine neutrale Haltung im österreichisch preußischen Konflikt zu bewahren, beschwor Georg V. den Krieg mit Preußen herauf und verlor sein Land.

Göttinger Sieben

Die Annexion des welfischen Königreichs durch das siegreiche Preußen 1866 wurde in der Bevölkerung mehrheitlich als bitteres Unrecht empfunden, obwohl während der Regierung Georgs V. die Kritik an dem innenpolitischen und dem starr orthodoxen religionspolitischen Kurs nie verstummt war. Die Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus ging durch alle Schichten, reichte vom konservativen Adeligen bis zum liberalen Großbürger, vom reichen Marschbauern, vom städtischen Handwerker bis hin zum Göttinger Professor, reichte vom versteckten Protest der in (hannoversch) welfischen Farben, in weiß gelb, gehaltenen Blumenrabatten, bis hin zu einer in Frankreich gegründeten (vor 1870 aufgelösten) welfischen Legion. Doch Stimmungen verdichteten sich nicht zu politisch wirksamem Einfluß. Die deutsch hannoversche Rechtspartei, 1869 gegründet, und in ihren Bestrebungen noch nach 1945 die Deutsche Partei prägend, vermochte nach 1891 nur wenige Sitze im Reichstag zu erringen. Daß das siegreiche Preußen die Rückkehr der Welfen verhindern konnte, selbst als 1884 das Haus Braunschweig ausstarb, daß der Einfluß des Welfenbundes nicht nur durch Generationswandel fast kontinuierlich von Jahr zu Jahr zurückging, lag nicht zuletzt an dem Bündnis, das die neue Administration mit den neuen, großräumig orientierten Wirtschaftsformen einging, lag daran, daß die sozialen Fragen vor allem nach dem ersten Weltkrieg größeres Gewicht als die alten Legitimitätsprobleme erlangten. Für das dynastische Problem war erst wenige Jahre vor dem Untergang der deutschen Fürstenwelt ein Kompromiß gefunden worden, als Herzog Ernst August die Kaisertochter Viktoria Luise heiratete, aber hiervon unabhängig konzentrierten sich im Welfenbund Bestrebungen eines von Preußen unabhängigen eigenen Staates, Bestrebungen, die in ihrer Bedeutung für die Bildung des Landes Niedersachsen nicht unterschätzt werden dürfen.

Geschichte - 19. Jahrhundert
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