Soziale Strukturen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit
Vom hohen Mittelalter ab differenzierten sich, soziale Verhältnisse bis ins 19. Jahrhundert prägend, die ständischen Verhältnisse. Eine vereinfachende Schematisierung in Adel, Freie und Knechte ist nicht mehr möglich. Das Wachstum der Städte ist ein Ausdruck der komplizierter werdenden sozialen Welt. An die einfachen Wall- und Palisadenbefestigungen des 12. und 13. Jahrhunderts treten feste Mauern. In weitem Umkreis verändern die Städte mit ihrem Nahrungsmittelbedarf die Kulturlandschaft. In frühmittelalterlicher Zeit gab es noch keine Städte im niedersächsischen Raum. Kaufmannssiedlungen, Wike, reichten aus, und in Ostfriesland genügten Markttage und Marktfeste in größeren Siedlungen wie Marienhafe, um herausragende Heiligentage gruppiert, den Bedürfnissen des Handels bis ins Spätmittelalter hinein. Herrschaftliche Planung gab der Entwicklung des Städtewesens in Nordwestdeutschland den stärksten Anstoß. Dennoch gelang es den Fürsten und Herren nicht, über die Zeiten hinweg die Städte zu beherrschen; diese erweiterten im späten Mittelalter in immer stärkerem Maße ihre Autonomie, die größeren von ihnen, Lüneburg, Braunschweig, aber auch Göttingen und das damals nur mittelgroße Hannover, verdrängten den Fürsten aus ihren Mauern, kauften ihm teils die Herrschaftsrechte ab oder zerstörten seine Burg. Der Landfrieden wurde weniger von den dazu verpflichteten Fürsten gesichert als von den Städten, die ihre Handelsinteressen wahren mußten. Die weitgehende Autonomie war Voraussetzung für den Anschluß der meisten niedersächsischen Städte an den überregionalen Wirtschaftsbund der Hanse.
Fast zeitgleich mit dem Niedergang der Hanse im 16. Jahrhundert setzt auch eine Schwächung der niedersächsischen Kommunen ein. Von Stadt zu Stadt verschieden, aber letztlich mit dem gleichen Ergebnis, können die Fürsten die Stadtherrschaft zurückgewinnen. Endpunkt dieser Entwicklung ist 1671 die Einnahme Braunschweigs, das den Welfen in kriegerischer Fehde so oft getrotzt hatte.
Zur Schwächung der Städte hat auch eine konfliktträchtige, innere Unruhe erzeugende Sozialstruktur beigetragen. Die politische Führung lag bei einer kleinen, zumeist Handel treibenden reichen Oberschicht, dem Patriziat, dessen Handelsinteressen über den engen lokalen Umkreis hinauswiesen und das meist mit führenden Geschlechtern anderer Städte versippt und verschwägert war. Generationentiefe Verwandtschafts und Erbverhältnisse prägten diese Führungsschicht, auch wenn sie sich sozialen Aufsteigern nicht so streng verschloß wie in Süddeutschland. Die Zünfte, meist Innungen, Ämter oder Gilden genannt, waren ihrer Verfassung nach Genossenschaften Gleichberechtigter, in der Realität jedoch in verschiedene Interessen zwischen reichen und armen Meistern aufgespalten. Selten fanden die Gilden einer Stadt zu gemeinsamem Handeln zusammen. Zu groß waren die ökonomischen Unterschiede zwischen den reichen Nahrungsmittelzünften, den Knochenhauern und Bäckern, und den ärmsten Handwerkszünften, wo die Meister allein von ihrer Hände Arbeit leben mußten. Der reiche Gewandschneider, der sich im Handel engagierte, blickte auf den armen Schneider, den Schrader, der die Stoffe nur verarbeitete, herab. Neben den in Gilden organiserten Handwerkern stand die "Meinheit", die Gruppe aller nichtzünftisch Organisierten. Wer in der Stadt, ob arm oder reich, das Bürgerrecht besaß, hatte Pflichten wie Wachdienste wahrzunehmen, hatte Steuern zu zahlen, genoß hingegen auch den Schutz der Stadt. Aber viele hausten innerhalb der Mauern ohne das Privileg des Bürgerrechts: Knechte und Mägde zumeist, Arbeiter, städtische Tagelöhner und die schwer faßbare Schicht der Unterständischen, der fahrenden Leute und der "Unehrlichen" wie Leineweber, Slawen in Lüneburg, Schneider und Henker.
Neben dem Bürger entwickelte sich aus hochmittelalterlichen Verhältnissen heraus der niedere Adel als neuer, sozialgestaltender Stand. Seine Herkunft liegt in der hochmittelalterlichen Ministerialität, der schwertgewohnten Dienerschaft eines Fürsten oder großen Herren. Herangezogen zu militärischem Dienst in Fehdezeiten, zu Verwaltungsaufgaben im Frieden, gelang es diesem Stand, seine Privilegien auszubauen, die Abhängigkeitsbindungen immer mehr zu lockern, die Dienstgüter in Erbgüter nach Lehnsrecht umzuwandeln. In den unruhigen Zeiten des Spätmittelalters hatte es bisweilen den Anschein, als würde dieser Adel das Fürstentum zum Schattendasein verurteilen, nicht zuletzt, weil bei ihm die Fürsten oft tief verschuldet waren.
Ein Adelsgut, ein Sedel oder Sattelhof in welfischen Landen, war Mittelpunkt adeliger Herrschaft, die in einem bisweilen sehr weiten Umkreis noch einzelne Grundrenten, Eier zu Ostern, Gänse zu St. Martin, und einträgliche Zehnten erhob. Die Besitzfluktuation innerhalb des Adels war unübersehbar. Nur eine Minderheit konnte die namengebenden Stammsitze erhalten (z. B. von Lenthe, von Adelebsen). Fast um die Hälfte verminderte sich im späten Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit die Zahl der in Niedersachsen ansässigen adligen Familien. Besitzkonzentration war die Folge, und dennoch geriet der Adel in eine ökonomische Krise, über die auch die beeindruckenden Zeugnisse baulicher Repräsentation im Stile der sogenannten Weserrenaissance nicht hinwegtäuschen können; denn der etwa in der Hämelschenburg zur Schau gestellte Reichtum war nicht aus angestammtem Besitz erwirtschaftet, sondern Kriegsgewinn. Erfolgreiche Obristen, wie Georg von der Holle, wie Hilmar von Münchhausen, verstanden als Kriegsunternehmer Truppen zu organisieren, die sie mit sattem Gewinn auf den europäischen Kriegsschauplätzen vermieteten.
Aus spätmittelalterlichen Verhältnissen, aus der Verpflichtung zu Rat und Hilfe für den Landesherrn, hatte der Adel ebenso wie die hohe Geistlichkeit das Recht abgeleitet, in wichtigen Angelegenheiten des Landes gefragt zu werden, mitbestimmen zu können. Ständische Versammlungen, Landtage, entstanden, waren jedoch noch keine Dauereinrichtungen, sondern wurden von Fall zu Fall, vor allem in Notzeiten, einberufen. Die Städte wurden, um ihre Steuerkraft auszunutzen, hinzugezogen. Als nach der Reformation die reichbepfründete höhere Geistlichkeit, der Prälatenstand, in protestantischen Gebieten entscheidend verändert wurde und selbst in den beiden katholisch gebliebenen Hochstiften Hildesheim und Osnabrück an Bedeutung verlor, blieb dem Adel die Führungsrolle in diesen ständischen Versammlungen vorbehalten. Diese Rolle konnte er auch behaupten, als sich, korrespondierend zum fürstlichen Absolutismus, die einstmals unter freiem Himmel tagenden allgemeinen Versammlungen zu einem engeren ständischen Ausschuß institutionalisierten.
Stärker als in anderen deutschen Landen war im Nordwesten die adelige Herrschaft durch ein starkes Bauerntum begrenzt. Sehen wir von der ostfriesischen Entwicklung ab, die einen Adel als Stand gar nicht entstehen ließ, so hatte in fruchtbaren Marschlandschaften ein wirtschaftlich gutgestelltes Bauerntum Macht genug, um die adelige Herrschaft zu begrenzen. Im östlichen Niedersachsen konnten die Meier, die sich als Stand mit der Auflösung der großen hochmittelalterlichen Hofverbände gebildet hatten, einer Ausdehnung ritterlicher Gutsherrschaft Schranken setzen. Ursprünglich war das Meierrecht einem Zeitpachtverhältnis ähnlich, bei dem der Herr dem Bauern kündigen, ihn "abmeiern" konnte. Schon seit dem 15. Jahrhundert schränkten die Welfen, um die Steuerkraft des Bauernstandes zu erhalten, die Adelsrechte immer mehr ein, legten sie bis hin zum Gandersheimer Landtagsabschied 1601 und abschließend in der Calenbergischen Meierordnung 1772 immer enger aus, so daß faktisch aus einem Pachtverhältnis ein Erbrecht entstand.
Die Meier sind eine nur besonders konturiert hervortretende Schicht innerhalb des niedersächsischen Bauerntums, das darüber hinaus durch eine Vielfalt sozialer Erscheinungsformen geprägt war. Unterschiede in der Bonität der Böden – fruchtbares Marschland, sandige Heideböden, wenig ertragreiche, weitgehend nur Subsistenzwirtschaft gestattende Geest – gestalteten ebenso unterschiedliche Sozialzustände wie die verschiedenen Siedlungsformen vom Einzelhof über die verstreute Weilersiedlung bis hin zum geschlossenen Dorfverband. Immer deutlicher tritt seit dem späten Mittelalter das Entstehen klein und unterbäuerlicher Schichten in Erscheinung. Ausdruck eines kontinuierlichen Bevölkerungswachstums, das durch die Pestwellen, die sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gehäuft hatten, nur gebremst worden war. Im äußeren Kreis um die reichen Höfe herum liegen die kleinen Behausungen der Kötner, die nur wenig Land ihr eigen nennen, kaum Vieh halten können, weil sie keinen Anteil an der Gemeindenutzung, am Dorfanger und der für die Schweinezucht unerläßlichen Waldnutzung haben. Noch weiter an den Rand des Dorfes gedrückt erscheinen seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert die Brinksitzer, arme Leute, Tagelöhner auf den großen Höfen, Dorfhandwerker. Steuerregister der frühen Neuzeit lassen die klaffenden sozialen Unterschiede auf dem Lande hinter nüchternen Zahlen erkennen.