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Regierungserklärung des Niedersächsischen Ministerpräsidenten am 10. September 2015

Flüchtlinge in Niedersachsen – Weltoffenheit schützen, Herausforderungen annehmen, Chancen nutzen


Flüchtlinge in Niedersachsen – Weltoffenheit schützen,

Herausforderungen annehmen, Chancen nutzen

– Regierungserklärung vor dem Niedersächsischen Landtag am 10. September 2015 –

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

welche Bilder vom Sommer 2015 werden in Erinnerung bleiben? Bilder vom Bahnhof Budapest, wo Menschen verzweifelt versuchen, einen Platz im Zug Richtung Norden zu ergattern? Oder die Bilder von dem Kühltransporter bei Wien, in dem 71 Menschen elend erstickt sind? Oder das Bild von dem toten syrischen Jungen am Strand, das in der letzten Woche Millionen von Menschen tief angerührt hat? Die Bilder aus Heidenau, wo nachts eine Flüchtlingsunterkunft angegriffen und bei Tageslicht die Bundeskanzlerin als Volksverräterin beschimpft wurde? Oder überwiegen doch die Bilder von diversen Bahnhöfen unseres Landes, wo Flüchtlinge mit Beifall herzlich begrüßt wurden?

Die Auswahl ist groß unter den Bildern dieses Sommers und sie sind alle Teil einer dramatischen Entwicklung. Wir erleben derzeit die größte Fluchtbewegung auf der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg, etwa 60 Millionen Menschen haben ihre Heimat verlassen und suchen Zuflucht. Es ist nur ein vergleichsweise kleiner Teil, der bei uns in Deutschland ankommt, aber auch bei uns haben sich die Zugangszahlen dramatisch erhöht. Noch vor zwei Jahren waren es etwa 125.000 Menschen, die in Deutschland Zuflucht gesucht haben, vor der Sommerpause hat der Bundesinnenminister für dieses Jahr einen Zugang von etwa 350.000 prognostiziert, in der Sommerpause hat er diese Prognose auf bis zu 800.000 Flüchtlinge erhöht – eine Verdoppelung innerhalb weniger Wochen! So etwas hat es meines Wissens zuvor noch nicht gegeben.

Unter diesen Bedingungen ist es nicht zu weit gegriffen, wenn ich sage: Ja, wir haben eine Notsituation. Alle unsere Aufnahmesysteme im Bund, in den Ländern und in den Kommunen sind äußerst strapaziert, zum Teil auch darüber hinaus. Umso herzlicher sollten wir danken: Den Kommunen, die unter extrem schwierigen Bedingungen bei uns in Niedersachsen Unterkünfte für die Flüchtlinge bereitstellen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landes, vor allem in den Landesaufnahmeeinrichtungen, die in völlig überfüllten Unterkünften herausragende Arbeit leisten. Der Polizei, den Feuerwehren und den Hilfsorganisationen, die weit über das Normalmaß hinaus Einsatz leisten. Und vor allem auch vielen tausend Bürgerinnen und Bürgern, die in der Flüchtlingshilfe vor Ort ehrenamtlich ohne jedes Aufheben ganz praktisch anpacken und Menschen die Hand reichen, die aus großer Not zu uns kommen. Diese Bürgerinnen und Bürger sind die stillen Helden des Sommers 2015, sie sind die besten Botschafterinnen und Botschafter unseres Landes. Ihnen allen ein herzliches Dankeschön!

Uns allen ist aber in diesen Wochen auch bewusst, dass es noch um mehr geht, als die Aufnahme von Flüchtlingen. Es geht auch um uns, um die Zukunft unserer Gesellschaft. Es geht darum, ob wir uns abschotten, ob wir Hass und Ablehnung gegen Minderheiten dulden oder ob wir unsere freie, demokratische, weltoffene Gesellschaft verteidigen. Viele tausend Menschen in Niedersachsen geben dafür Tag für Tag eine eindrucksvolle Antwort und helfen. Diesen Menschen fühlen wir uns tief verbunden, sie stehen beispielhaft für Mitgefühl und Mitmenschlichkeit! Unsere offene Gesellschaft steht auf dem Prüfstand, und wir alle müssen sie miteinander verteidigen!

Wir sind gemeinsam gut beraten, in dieser Situation die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen, die uns verbinden. Das gesamte demokratische Spektrum in Deutschland ist sich einig, dass wir unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen müssen und dafür auch bereit sind, große Anstrengungen in Kauf zu nehmen. Bei aller Freude am politischen Streit sollten wir diese fundamentale Gemeinsamkeit immer und immer wieder betonen. Gönnen wir den Rechtsextremen nicht den Eindruck einer streitenden Demokratie in dieser Frage!

Was ist zu tun? Das drängendste Problem vor Ort sind im Moment die Unterkünfte – eine ausreichende Zahl von Plätzen unter anständigen Bedingungen für die Menschen, die zu uns kommen.

Dieses Problem haben Kommunen und Land gleichermaßen. Sie machen die Erfahrungen, dass es in unserem ausgetüfteltem Rechtssystem gelegentlich schwer ist, schnell und flexibel zu handeln. Viele Vorschriften, die gewiss in bester Absicht erlassen worden sind, erschweren die Bereitstellung von Unterkünften. Innenminister Pistorius hat die Initiative ergriffen, Standards zu überprüfen und gegebenenfalls vorübergehend für die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften auch auszusetzen. Auf der Landesebene laufen derzeit entsprechende Arbeiten, wir werden zum Beispiel Bauvorhaben beschleunigen und Vergaben erleichtern. Unsere Bundesratsinitiative zu diesem Thema hat ein breites Echo gefunden. Auch die Bundesregierung unterstützt diesen Vorstoß. Wir sind dankbar für diese Unterstützung, sie ist aber auch dringend notwendig.

In Niedersachsen ist der schnelle und konsequente Ausbau unserer Aufnahmeeinrichtungen von höchster Priorität. Warum? Wir brauchen Unterkünfte für die wachsende Zahl von Menschen, die gerade in diesen Tagen nach Niedersachsen kommen. Die bestehenden Einrichtungen sind derzeit völlig überfüllt und benötigen Entlastung. Im geplanten Nachtragshaushalt sind hierfür 30 Millionen Euro vorgesehen.

Leider sind in den vorangegangenen Jahren aus Kostengründen Einrichtungen geschlossen worden, die wir jetzt schmerzlich vermissen. Im Jahr 2013 gab es nur noch 1.700 Plätze in den niedersächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen. Heute können wir mehr als 10.000 Menschen unterbringen, alleine seit Anfang des Monats haben wir damit die Kapazitäten verdoppeln können. Das ist eine herausragende Leistung! So wird es auch weitergehen! Und so wurde bereits gestern die Entscheidung getroffen, eine frühere Kaserne in Ehra-Lessien als weiteren Standort für die Erstaufnahme von Flüchtlingen auszubauen. Damit stehen ab 1. Januar 2016 weitere 600 Plätze zur Verfügung! Bis zum Ende des Jahres sollen 15.000 Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen oder anderen winterfesten Unterkünften Aufnahme finden können. Das ist eine Verneunfachung gegenüber 2013!

Diese 15.000 Erstaufnahmeplätze entsprechen im Übrigen dem Bedarf, den der Bund umgerechnet für Niedersachsen bis Ende 2015 annimmt.

Hinter allen diesen Zahlen stehen große Anstrengungen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich dafür herzlich zu bedanken – bei den Beteiligten, aber auch bei den Kommunen, bei denen wir derzeit sehr viel Verständnis finden.

Wie es danach weitergeht, wird natürlich auch von der Entwicklung der Flüchtlingszahlen abhängen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Flüchtlingszahlen nicht nennenswert verringern. Deshalb wird die Landesregierung auch weiter energisch die Einrichtung neuer Unterkünfte vorantreiben. Wir tun dies vor allem auch, um unsere Kommunen zu entlasten, damit sie die Möglichkeit haben, sich auf viele zugewiesene Flüchtlinge angemessen vorzubereiten.

Danach wird sich schnell ein neues Thema stellen, der Wohnungsbau. Wir müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, so schnell wie möglich nicht nur einfach untergebracht werden, sondern mit Ihren Familien in einer Wohnung leben können. Dies ermöglicht auch gesellschaftliche Teilhabe von Anfang an. Provisorien dürfen keinesfalls zur Dauerlösung werden.

Dabei sind viele Städte und Gemeinden inzwischen an ihre Grenzen gestoßen. Vor allem in den wachstumsstarken Städten und Regionen ist es sehr schwierig geworden, bezahlbaren Wohnraum zu beschaffen. Und dabei geht es nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch um Haushalte, die nach bezahlbarem Wohnraum suchen.

Diesem Engpass setzen wir etwas entgegen. Wir wollen erreichen, dass es Flüchtlingen und anderen Menschen mit geringem Einkommen ermöglicht wird, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deshalb werden wir unsere Anstrengungen im sozialen Wohnungsbau verstärken. Weitere 400 Millionen Euro werden wir für die soziale Wohnraumförderung über die NBank zur Verfügung stellen. Diese Initiative haben wir bereits vor der Sommerpause auf den Weg gebracht.

Dies bedeutet, dass wir noch einmal das Zehnfache dessen einsetzen, was der Bund dem Land Niedersachsen für diese Zwecke jährlich zur Verfügung stellt! Wohnungspolitik sichert sozialen Frieden, das gilt gerade auch unter den jetzigen Bedingungen.

Daneben haben die Kommunen aber ein zweites Problem, das ich außerordentlich ernst nehme. Der dramatische Anstieg von Asylbewerberinnen und -bewerbern korrespondiert mit einem dramatischen Anstieg der Kosten.

Schon mit dem ersten Nachtragshaushalt 2015 hat die rot-grüne Landesregierung ein Bündel von Entlastungsmaßnahmen auf den Weg gebracht, um die außergewöhnlichen Belastungen der Kommunen im Zusammenhang mit der Aufnahme der Flüchtlinge abzufedern. Mit der im Zentrum des Nachtragshaushalts stehenden Soforthilfe des Landes in Höhe von 40 Mio. Euro und der Verdoppelung der pauschalen Hilfe des Bundes in Höhe von 80 Mio. Euro beläuft sich bereits heute die für 2015 etatisierte Kostenerstattung der Kommunen auf rd. 240 Mio. Euro.

Das war die Perspektive Mitte des Jahres, seitdem hat sich die Lage bekanntlich massiv verschärft.

Eines ist für mich völlig klar: Wir dürfen die Leistungsfähigkeit unserer Kreise, Städte und Gemeinden nicht überfordern, wir müssen ihre Handlungsfähigkeit aufrechterhalten. Die Aufnahmebereitschaft in unserer Gesellschaft darf nicht dadurch Schaden nehmen, dass die Kommunen ihre anderen Aufgaben vernachlässigen müssen.

Wir machen auch in dieser Hinsicht deutlich erkennbar Fortschritte. Zwischen der Landesregierung und den kommunalen Spitzenverbänden besteht Einvernehmen darüber, dass wir im Durchschnitt von etwa 10.000 Euro Kosten im Einzelfall pro Jahr ausgehen müssen. Davon trägt das Land auf der Basis der jetzt bekannten Flüchtlingszahlen mehr als zwei Drittel. Gleichwohl: Es muss unser Ziel sein, dass im Wesentlichen der Bund und das Land die Kosten der Flüchtlingsunterbringung tragen und die Kommunen allenfalls durch eine Interessenquote dazu beitragen. Dafür war und ist es unumgänglich, dass sich der Bund strukturell und dauerhaft an den Kosten von Flucht und Asyl beteiligt.

Deswegen haben alle 16 Bundesländer die gemeinsame, die dringliche und gut begründete Forderung erhoben, dass sich der Bund strukturell an den Kosten beteiligen muss. Strukturell heißt: Unbefristet und in Abhängigkeit von der Flüchtlingszahl.

Vor wenigen Tagen hat hierzu, wie Sie wissen, der Koalitionsausschuss in Berlin getagt. Bei diesem Punkt haben die Beratungen einen echten Fortschritt erbracht, und ich würdige ausdrücklich das Angebot, bundesseitig künftig in die Mitfinanzierung dieser Aufgabe einzusteigen und zwar zunächst auf der Basis von 3 Milliarden Euro. Über die Höhe wird in den anstehenden Bund-Länder Gesprächen zu reden sein, aber schon jetzt steht fest: Eine wesentliche Entlastung der Kommunen ist möglich. Niedersachsen wird bei der noch ausstehenden Einigung mit dem Bund darauf drängen, dass eine hohe, dauerhafte und dynamische Beteiligung des Bundes an der Flüchtlingsversorgung vereinbart wird.

Das sind nun wirklich gesamtstaatliche Herausforderungen, die nicht nur von den Ländern und Kommunen zu tragen sind!

Ich nehme die Situation in unseren Kommunen außerordentlich ernst, ohne sie werden wir diese Herausforderung nicht meistern. Deswegen machen wir auch in Niedersachsen Nägel mit Köpfen. Die Landesregierung hat beschlossen, Ihnen einen zweiten Nachtragshaushaltsplan in Höhe von 300 Euro für das laufende Jahr vorzulegen. Der Löwenanteil soll dabei den Kreisen, Städten und Gemeinden zugutekommen. Wir schlagen vor, die für das nächste Jahr vorgesehenen 180 Millionen Euro bereits jetzt den Kommunen zur Verfügung zu stellen. Das wird die Kommunen spürbar entlasten.

Mit diesem Vorschlag gelingt uns zweierlei: Derzeit müssen die Kommunen ihre Kosten vorfinanzieren, die Erstattung des Landes erfolgt erst zwei Jahr später. Diese Vorfinanzierung wird durch die 180 Millionen Euro weitgehend beendet. Und zum Zweiten: Wir wollen den Abrechnungszeitraum verkürzen. Ob uns das gelingt, wird von den Ergebnissen der Verhandlungen in Berlin abhängen. In der Sache trägt die vorgezogene Zahlung der Pauschale 2016 schon in diesem Jahr aber genau den berechtigten Forderungen der Kommunen Rechnung.

Es ist also derzeit vieles im Fluss. Nach dem 24. September, nach dem Berliner Flüchtlingsgipfel, werden wir unser Erstattungssystem in Niedersachsen überarbeiten. Wir werden dabei mit den kommunalen Spitzenverbänden vertrauensvoll zusammenarbeiten und die unterschiedlichen Entlastungen in ein dauerhaftes System übertragen.

Und ein letzter Hinweis mit Blick auf die Kommunen. Die Abrechnung von Gesundheitsdienstleistungen ist umständlich und belastet die Kommunen überflüssigerweise. Der Bund muss die Möglichkeit eröffnen, Kosten ländereinheitlich über die Krankenversicherung abzurechnen. Darauf werden wir bei den Verhandlungen in Berlin weiterhin drängen. Mit Blick auf die angekündigte Gesetzesänderung hat Niedersachsen eigene Aktivitäten zunächst zurückgestellt. Die Einführung einer Gesundheitscard wird es allen Beteiligten leichter machen, da bin ich sicher.

Meine Damen und Herren: Wir lassen die niedersächsischen Kommunen nicht im Stich, wir unterstützen sie nachhaltig in ihrer Arbeit!

Das sind sehr tatkräftige Beiträge des Landes in einer zugespitzten Situation. Wir können sie leisten, weil sich die Finanzlage des Landes in den vergangenen zweieinhalb Jahren wesentlich stabilisiert hat. Wir wissen aber auch, was wir damit nicht erreichen können – eine Reduzierung der Zugangszahlen und eine Beschleunigung des Asylverfahrens.

In aller Ernsthaftigkeit möchte ich hervorheben: Ich bin überzeugt davon, dass unsere Gesellschaft in der Lage ist, die Herausforderungen des Jahres 2015 erfolgreich zu meistern. Ich fürchte allerdings auch, dies wird uns nicht auf unabsehbare Zeit gelingen. Deswegen muss in der Bundespolitik vor allem eines geschehen – eine durchgreifende und nachhaltige Beschleunigung des Asylverfahrens.

Im Moment haben wir immer noch wachsende Zugangszahlen und immer noch wachsende Antragsberge. Ich habe schon Anfang des Jahres beim Epiphaniasempfang der Evangelischen Landeskirche in Loccum darauf hingewiesen, dass wir es dabei mit sehr unterschiedlichen Gruppen zu tun haben. Es gibt Flüchtlinge mit einer Anerkennungsquote von mehr als 99 Prozent, insbesondere aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Auch Eritrea ist in dieser Hinsicht zu nennen. Daneben stehen aber Asylbewerber aus Ländern mit einer Ablehnungsquote von mehr als 99 Prozent, insbesondere aus den Balkan-Staaten. In dem einen Fall haben wir es mit einer sehr guten Bleibeperspektive zu tun, in dem anderen Fall mit einer sehr schlechten. Es kann nicht richtig sein, dass beide Gruppen viele Monate warten müssen, bis sie Klarheit haben über ihr weiteres Schicksal in der Bundesrepublik. Es kann erst recht nicht richtig sein, dass sechs bis acht Wochen verstreichen, bis überhaupt ein Asylantrag gestellt werden kann.

Das ist kein Problem der Gesetzgebung, das ist ein Problem der Verwaltungspraxis. Wir müssen dazu kommen, dass alle Betroffenen schneller Klarheit haben. Damit würden im Übrigen alle nachfolgenden Aufnahmesysteme bei uns wesentlich entlastet werden. Deswegen steht die Beschleunigung des Asylverfahrens meines Erachtens im Mittelpunkt aller Überlegungen.

Es gibt dafür einen Dreh- und Angelpunkt. Zuständig für das Asylverfahren ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die 16 Länder mahnen seit vielen Monaten eine wesentlich bessere Ausstattung dieser Behörde an. Die Bundesregierung hat eine deutliche Aufstockung des Personals zugesagt, aber das dauert sehr lange. Und im Lichte der aktuellen Entwicklung reichen die im ersten Halbjahr versprochenen zusätzlichen Stellen heute schon nicht mehr aus. An dieser Stelle muss dringend etwas geschehen, sonst werden die Aktenberge weiter wachsen und die Überforderung aller anderen Beteiligten weiter zunehmen.

Nur dann ist es auch möglich, sich zu konzentrieren, nämlich auf Betroffene mit einer besonders guten Bleibeperspektive und solche ohne wirkliche Bleibeperspektive. Beide Gruppen – und sie machen einen großen Teil aller Asylverfahren aus – können schnell und zügig entschieden werden. Dafür muss kein Buchstabe in keinem Gesetz geändert werden, das ist Verwaltungshandeln!

Ich erinnere daran mit allem Nachdruck, weil manche Diskussionen derzeit vom Kern des Problems eher ablenken. Da werden Grundgesetzänderungen erwogen und nach wenigen Tagen wieder fallengelassen. Da wird über den Entzug von Barmitteln für Asylbewerber diskutiert, obwohl damit bereits in der Vergangenheit hinlänglich schlechte Erfahrungen gemacht worden sind. Und da gibt es die Diskussion über eine Erweiterung der Liste von sicheren Herkunftsstaaten, die so geführt wird, als ob man damit die Probleme lösen könnte. Gegner wie Befürworter überschätzen dabei nach meinem Eindruck die Bedeutung der „sicheren Herkunftsstaaten“ bei weitem. Fragen Sie einmal Verwaltungsrichter – die Wirkung ist durchaus überschaubar. Aber umgekehrt gilt auch: Wir reden über Verfahren, in denen das Ergebnis so gut wie feststeht. Ich setze darauf, dass wir in den nächsten zweieinhalb Wochen in den weiteren Bund-Länder Beratungen dazu eine vernünftige Lösung finden werden.

Und noch etwas ist hervorzuheben: Eine Verlängerung des Aufenthaltes in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist unter den heute gegebenen Bedingungen unverantwortlich. Solange in allen Ländern die Erstaufnahmeeinrichtungen überfordert sind, solange die Asylverfahren viele Monate dauern, solange dürfen diese Einrichtungen nicht noch mehr belastet werden! In diesem Punkt sind die Berliner Koalitionsbeschlüsse ganz sicher zu korrigieren.

Der Kern des Problems bleibt derselbe: Wir müssen schneller werden, wir müssen flexibler und oftmals pragmatischer werden. Und wir müssen allen Beteiligten schneller Klarheit verschaffen. Das werden wir bei den Gesprächen in Berlin mit allem Nachdruck einfordern.

Am Ende des Asylverfahrens stehen Entscheidungen – positive oder negative. Wessen Asylantrag am Ende eines rechtsstaatlichen Verfahrens abgelehnt worden ist und wer keine Abschiebungshindernisse aufzuweisen hat, der muss unser Land auch verlassen. Dazu können wir uns aus guten Gründen bekennen. Deutschland hebt sich überaus positiv in seinem Bemühen von vielen anderen EU-Staaten ab, ein faires Asylverfahren zu gewährleisten. Wir stehen zum Grundrecht auf politisches Asyl, aber wir können nicht die Hoffnungen aller Menschen erfüllen!

Ich sage dies auch bewusst mit Blick auf die Menschen aus den Balkan-Staaten, die in diesen Monaten zu uns kommen. Sie haben ihre Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen, insbesondere die dort herrschende Perspektivlosigkeit für viele Familien. Das sind aber eben keine Gründe zur Anerkennung von Asyl im Sinne unseres Grundgesetzes. Dass es eine solche Vielzahl von Asylanträgen aus diesen Staaten gibt, markiert gleichzeitig ein Scheitern der europäischen Balkan-Politik. Die Europäische Union unterstützt jährlich mit vielen Milliarden Euro die Staaten auf dem Balkan. Wer sind eigentlich die Nutznießer dieser Mittel, und warum ändert sich nichts an der Lage der Menschen dort?

Und noch eines ist in diesem Zusammenhang offenkundig. Wir brauchen die Möglichkeit zu einer begrenzten legalen Zuwanderung auch für Gruppen, die nicht asylberechtigt sind. Für uns ist damit auch zugleich eine Chance verbunden, hochmotivierte, leistungsbereite Menschen dazuzubekommen, die wichtige Beiträge in unserem Land leisten können. Ich freue mich, dass auch die Bundesregierung jetzt begonnen hat, auf diesem Weg erste Schritte zu tun. Ein modernes Einwanderungsrecht ist überfällig, Deutschland ist nun einmal ein Einwanderungsland. Dieser Einsicht müssen endlich auch Taten folgen.

Machen wir uns aber nichts vor: Ein großer Teil derjenigen Menschen, die in diesen Monaten zu uns kommen, werden auf Dauer hierbleiben. Sie kommen aus tiefer Not zu uns und suchen Zuflucht. Dass sich die Lage in ihrer Heimat auf absehbare Zeit ändert, ist heute leider nicht sehr realistisch. Und deswegen müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, Angebote zur Integration in unsere Gesellschaft zu machen.

Der erste Schritt dazu – daran gibt es keinen Zweifel – sind Sprachkenntnisse. Wer sich verständigen kann, dem wird es viel leichter fallen, in seiner neuen Heimat zurechtzukommen. Sprachförderung macht es aber nicht nur Flüchtlingen leichter, die lange und vielleicht für immer in Deutschland bleiben werden. Sprachförderung ist auch im ureigensten Interesse unserer Gesellschaft. Sprache ist die Grundlage für Bildung, Bildung ist Grundlage für Qualifizierung, Qualifizierung ist die Grundlage für gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, dass unsere neuen Nachbarn auf Dauer Leistungsträger und nicht Leistungsempfänger werden.

Wir haben in dieser Hinsicht schon in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen, wir werden diese Anstrengungen noch einmal intensivieren.

Mit dem Entwurf für einen zweiten Nachtragshaushaltsplan schlagen wir Ihnen ein umfangreiches Maßnahmenpaket vor. Wir stellen die Sprachförderung in ihren unterschiedlichen Facetten in den Mittelpunkt unserer Integrationsarbeit.

Alleine für den Schulbereich stellen wir Finanzmittel im Umfang von rund 700 zusätzlichen Stellen zur Verfügung, mit denen wir die Sprachförderung in unserem Land wesentlich voranbringen werden. An den niedersächsischen Schulen gibt es immer mehr Kinder und Jugendliche, die die deutsche Sprache nicht beherrschen. Zum Beginn des Schuljahres waren ca. 6200 neu zugewanderte Kinder an unseren Schulen zu verzeichnen – mit steigender Tendenz.

Kultusministerin Heiligenstadt hat bereits in den vergangenen beiden Jahren die Zahl der Sprachlernklassen vervierfacht. 300 an der Zahl sind es heute – wir werden diese Zahl sehr schnell auf etwa 550 Sprachlernklassen nahezu verdoppeln und mehr als 8.800 Kinder und Jugendliche gleichzeitig auf den Schulalltag vorbereiten. Für weitere Fördermaßnahmen wie z.B. Sprachförderkurse und vorschulische Sprachförderung soll der Umfang der Lehrerstunden noch einmal um mindestens 7.500 Stunden erhöht werden. Das entspricht rund 250 Stellen. Bis zu 20 Lehrkräfte davon können in Erstaufnahmeeinrichtungen eingesetzt werden, um die Kinder auf die Schule vorzubereiten.

Wir brauchen gerade bei Flüchtlingskindern pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wir brauchen schulische Sozialarbeit zur Integration junger Flüchtlinge. Und schließlich sollen die berufsbildenden Schulen die Möglichkeit erhalten, für Sprachanfängerinnen und
-anfänger Integrationskurse einzurichten, in der konkreten Umsetzung erhalten sie dabei weitestgehend freie Hand. Auf diese Weise kann auch jungen Flüchtlingen unabhängig von der Schulpflicht (über 18 Jahre) eine Teilnahme ermöglicht werden. Das wird auch dazu beitragen, dass die Integration der jungen Menschen in Berufsausbildung und Berufstätigkeit deutlich beschleunigt und vereinfacht wird. Für alle diese Maßnahmen sind rund 200 Stellen vorgesehen. Unsere Schulen leisten hervorragende Arbeit. Ich bedanke mich dafür bei allen Beteiligten.

Sprachförderung findet aber nicht nur innerhalb von Schulen statt. Daher werden wir auch die Sprachförderung für Erwachsene kräftig ausbauen. Über die fünf Millionen Euro für Sprachförderung hinaus, die bereits mit dem Haushaltsplanentwurf für das nächste Jahr vorgesehen sind, wird Ministerin Heinen-Kljajic noch einmal denselben Betrag zur Verfügung haben, damit auch erwachsene Flüchtlinge die Chance erhalten, sich sehr schnell in der neuen Heimat zurechtzufinden.

Sprachförderung findet Tag für Tag auch statt in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit. Das ist eine ganz wichtige Arbeit, für die wir herzlich danken. Zu ihrer Unterstützung, zum Beispiel für Materialien, werden wir eine Million Euro zur Verfügung stellen.

Wir brauchen auch mehr Flüchtlingssozialarbeit. Eine ganze Vielzahl von Fragen stellen sich Menschen, die neu nach Deutschland kommen, und sie brauchen dabei Orientierung und Unterstützung. Sozialministerin Cornelia Rundt wird diese Arbeit mit zusätzlich fünf Millionen Euro unterstützen können.

Insgesamt gesehen handelt es sich um ein kraftvolles Paket, das die Sprachförderung bei uns im Land in den Mittelpunkt stellt und vielen tausend Flüchtlingen in Niedersachsen die Chance geben soll, sich möglichst schnell in unsere Gesellschaft hineinzufinden und sich hier zu entwickeln. Niedersachsen wird mit diesem Sprachförder-Paket, das vielen Menschen helfen wird, seiner Verantwortung gerecht.

Damit korrespondiert natürlich auch eine aktive Integration in den Arbeitsmarkt.

Ich finde es ausgesprochen positiv, dass die Bundesregierung diese Arbeit ebenfalls mit hohen Beträgen unterstützen wird und die Bundesagentur für Arbeit damit handlungsfähig ist. Die Landesregierung unterstützt die Integration in den Arbeitsmarkt tatkräftig. Seit zwei Monaten gibt es ein gemeinsames Projekt mit der Regionaldirektion der BA. In den Landesaufnahmebehörden wird auf freiwilliger Basis eine Kompetenzerfassung der Asylsuchenden vorgenommen und damit von Anfang an ein Kontakt zur Agentur für Arbeit und den Jobcentern hergestellt. Bei einem Erfolg dieses Modellversuches wird dieses Beispiel sicherlich Schule machen, und wir werden auch in Niedersachsen ein solches Konzept nachdrücklich weiterverfolgen.

Oder lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen: Viele Handwerksunternehmen klagen über Schwierigkeiten, Lehrstellen zu besetzen. Derzeit reden wir gemeinsam mit den Handwerkskammern darüber, wie wir junge Flüchtlinge gerade für solche Ausbildungen qualifizieren und ihnen damit den Eintritt in den Arbeitsmarkt verschaffen können.

Die hohe Zuwanderung ist auch eine Chance für Niedersachsen. Sie ist eine gute Gelegenheit für unsere Wirtschaft, den Fachkräftebedarf durch junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte zu decken. Um es deutlich zu sagen: Niedersachsen braucht auch in Zukunft eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderung. Das ist die Grundlage für den Erfolg vieler unserer Unternehmen in der Zukunft!

An dieser Stelle ließe sich noch manches andere sagen, aber ich will es zusammenfassen: Die Landesregierung ist sich der Bedeutung von Arbeit und Bildung für die Integration sehr, sehr bewusst. Mit unseren Vorschlägen stellen wir dies nachdrücklich unter Beweis. Flüchtlinge, die nach Niedersachsen kommen und die hier bleiben, sollen die Chance haben, ein erfolgreiches Leben zu führen. Dafür bitte ich Sie herzlich um Ihre Unterstützung!

Ich habe jetzt einiges gesagt über die Menschen, die zu uns kommen, und wie wir staatlicherseits mit ihnen umgehen sollten und umgehen werden. Das ist wichtig, aber fast noch wichtiger ist die Reaktion der Gesellschaft in Deutschland und in Niedersachsen. Auf den ersten Blick gibt es in dieser Hinsicht widersprüchliche Signale. Ich erinnere mich an einen Besuch im hannoverschen Oststadt-Krankenhaus in der vorvergangenen Woche. Es handelt sich um die wohl größte kommunale Flüchtlingsunterkunft in Niedersachsen mit etwa 750 Bewohnern. Diese Flüchtlinge werden unterstützt durch sage und schreibe etwa 250 Bürgerinnen und Bürger, die sich gemeldet haben, um zu helfen, die Sprachunterricht geben, die bei Behördengängen unterstützen, die Kinder betreuen und Fahrräder reparieren. In der Kleiderkammer wurde mir davon berichtet, man werde den Kleiderspenden kaum Herr, wobei es sich allerdings überwiegend um Damenbekleidung handelt, während Männerbekleidung spärlicher gespendet werde. Auch das war übrigens ein interessanter Hinweis, wie ich fand.

Dieser überwältigenden Hilfsbereitschaft, die wir in Niedersachsen an allen Ecken und Enden finden, steht der Brandanschlag in Salzhemmendorf gegenüber. Dass ein Molotowcocktail in ein Zimmer geworfen wird, das von einer Frau mit ihren drei kleinen Kindern bewohnt wird, hat bei vielen von uns, auch bei mir, tiefes Erschrecken ausgelöst. Ich hatte Gelegenheit, mit der Frau zu sprechen. Ihre Familie hat im Heimatland schlimmste Gewalterfahrungen machen müssen. Dass diese Frau und ihre Kinder bei uns wiederum solche Erfahrungen machen müssen, finde ich unerträglich!

Für uns in Niedersachsen ist dieses Verbrechen ein Rückschlag, aber es ist nicht typisch für unsere Gesellschaft. Bezeichnend für die Aufnahmebereitschaft, die in unserem Land überall spürbar ist, sind tausende von Menschen, die zum Beispiel in Salzhemmendorf noch am selben Abend demonstriert haben. Kennzeichnend und typisch für unser Land sind nicht gewaltbereite Rechtsextreme, sondern Bürgerinnen und Bürger, die ohne jedes Aufheben Tag für Tag in allen Teilen unseres Landes helfen und unterstützen. Salzhemmendorf ist nicht Heidenau, Niedersachsen ist nicht Sachsen! Ich bin stolz darauf, dass in unserem Land die Bevölkerung Gesicht zeigt, Rückgrat beweist und keinen Zweifel aufkommen lässt: Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass, Rechtextremismus haben in Niedersachsen nichts zu suchen!

Dennoch: Wir werden wachsam bleiben müssen. Rechtsextremes Denken ist und bleibt eine Herausforderung für uns, und es sind viele rechte Agitateure und Provokateure unterwegs. Dagegen hilft zweierlei: Ein handlungsfähiger Staat und eine wache Zivilgesellschaft. Auch insofern war Salzhemmendorf für mich ein Lehrstück. Noch an demselben Tag ist es der Polizei gelungen, die Täter zu packen. Ich habe mich über den Fahndungserfolg sehr gefreut, weil er die Leistungsfähigkeit unserer Polizei eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Ich danke allen Beteiligten dafür sehr herzlich! Und wir brauchen eine aktive Zivilgesellschaft, auch dafür war Salzhemmendorf ein Beispiel. Ohne einen Nachbarn, der sofort nach dem Brandanschlag Polizei und Feuerwehr verständigt hat, ohne Hinweise aus der Bevölkerung wären die Täter wohl nicht so schnell überführt worden. Wache Bürgerinnen und Bürger, die Mitverantwortung übernehmen und aufpassen, sind vielleicht der beste Schutz gegen Rechtsextremismus. Ich danke auch in dieser Hinsicht allen, die in Salzhemmendorf geholfen haben!

In diesem Zusammenhang gestatten Sie eine Bemerkung am Rande: Derzeit schwebt vor dem Bundesverfassungsgericht ein Antrag der Bundesländer, die NPD zu verbieten. Nach allem, was ich weiß, sind viele der Umtriebe, mit denen die Rechten derzeit versuchen, die Flüchtlingsnot für ihre Zwecke zu missbrauchen, auch der NPD, ihrem Umfeld und ihren Akteuren zuzurechnen. Ich bin froh darüber, dass wir an diesem Verbotsantrag festgehalten haben und bin gespannt auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.


Vom „hellen Deutschland“ und von „Dunkeldeutschland“ hat der Bundespräsident kürzlich gesprochen. Stimmt, auch in Niedersachsen kennen wir beide Seiten. Das helle Niedersachsen ist aber um ein Vielfaches größer als die dunklen Facetten. Niedersachen präsentiert sich in diesen Tagen mitfühlend, mitmenschlich und weltoffen. Niedersachsen zeigt durch viele seiner Bürgerinnen und Bürger, dass wir weltoffen sind. Für uns in Niedersachsen ist nicht entscheidend, wo einer herkommt, sondern wo wir gemeinsam hinwollen. Das ist das moderne Niedersachsen im Spätsommer 2015! Und unter dem Eindruck der überwältigenden Reaktion am Wochenende in vielen Teilen Deutschlands füge ich hinzu: Ich bin froh und stolz, Bürger dieses Landes zu sein!

Wir erleben derzeit eine große Herausforderung für unseren Staat und unsere Gesellschaft. Die Bundeskanzlerin hat Recht, wenn sie sagt: „Wir schaffen das!“. Das gilt für das Jahr 2015 und die damit verbundenen Aufgaben. Richtig ist aber auch, dass unser Land einen solchen Druck wie in diesen Tagen unsere Gesellschaft nicht auf unabsehbare Zeit wird aushalten können. Alle Anstrengungen der Zivilgesellschaft, der Kommunen, des Landes und des Bundes sind dringend notwendig, sie werden aber eines nicht können: Das Problem grundsätzlich zu lösen. Ohne eine wirksame internationale Politik müssen alle Anstrengungen bei uns Stückwerk bleiben, dessen sind wir uns miteinander bewusst. Es muss darum gehen, eine Situation herzustellen, in der Menschen in ihrer eigenen Heimat bleiben und dort leben können.

Für die Europäische Union ist das gegenwärtige Flüchtlingsdrama ein Debakel. Es ist nicht hinzunehmen, dass sich die Bundesrepublik und einige wenige andere EU-Mitglieder ihrer humanitären Verantwortung stellen und inzwischen in Deutschland mehr als 40 Prozent aller europäischen Flüchtlinge sind. Die Flüchtlinge seien ein deutsches Problem, hat der ungarische Ministerpräsident Orbán kalt festgestellt – was für ein widerlicher Zynismus!

Die Flüchtlingsnot zu leugnen, mit ihr nichts zu tun haben zu wollen, ist eine größere Gefahr für den europäischen Gedanken, als griechische Finanzprobleme. Eine faire Verteilung der Menschen in Not, die zu uns kommen, ein fairer Umgang mit ihnen, eine Harmonisierung der Flüchtlingspolitik nach innen – das ist überfällig. Die Notwendigkeit zu nachhaltiger Entwicklung und zur Bekämpfung der Fluchtursachen ist selten so deutlich geworden wie in diesen Tagen. Armutsflüchtlingen Hoffnung geben und darüber hinaus Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen Schutz bieten - das muss die EU als Hauptaufgabe ihrer Außenpolitik begreifen.

Offene Grenzen innerhalb der EU sind der größte Erfolg Europas. Wer diesen Erfolg und damit auch die Einigung Europas nicht auf das Spiel setzen will, muss mit allem Nachdruck für eine gemeinsame, faire Flüchtlingspolitik kämpfen.

Lassen Sie mich hierzu einmal aus einer E-Mail zitieren, die mich in diesen Tagen erreicht hat und die, wie ich finde, die Aufgaben auf den Punkt bringt. Sie stammt von Professor Wolfgang Nebel, den manche von Ihnen kennen werden. Er ist Professor an der Universität Oldenburg und leitet das Informatik-Institut OFFIS. Ich zitiere:

Lieber Herr Weil,

entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie hiermit belästige, aber es bewegt mich einfach: Sind gerade auf unserem Sommersegelurlaub in Symi (kleine griechische Insel) nahe der Türkei. Viele Flüchtlinge aus Syrien – ich nenne sie eher Vertriebene aus ihrer Heimat. Mit einigen haben wir gesprochen. Ein besonders aufgeweckter junger Mann (Chefbuchhalter einer Bank) war Beispiel. Bei solchen Begegnungen werden nüchterne Zahlen zu Menschen und Gesichter zu Stimmen mit sehr persönlichen Tragödien. Viele wollen nach Deutschland über die bekannt gefährliche Route Mazedonien, Ungarn …

Wann schafft es die Politik, direkt an der EU-Grenze eine Erfassung und dann für die Vertriebenen mit realistischer Chance auf Anerkennung einen geordneten, legalen und sicheren Weg in ein Zielland zu ermöglichen? Die Vorstellung, dass dieser junge Mann, seine Familie oder andere der sehr bedauernswerten Menschen hier in einem Gefriertransporter ersticken könnten, ist unerträglich!!!“

Ich stimme Herrn Nebel voll und ganz zu, darum muss es gehen, wenn wir die Probleme lösen wollen.

Von Anfang an war Niedersachsen das Land der Flüchtlinge. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren mehr als ein Viertel unserer Bevölkerung Vertriebene. Es gibt unzählige Beweise dafür, dass diesen Menschen am Ende ihrer Flucht 1945 in Niedersachsen nicht ausgestreckten Armen begegneten, sondern häufig Distanz und Ablehnung. In der Familiengeschichte von vielen von uns gibt es dafür zahlreiche Beispiele. Viele Vertriebene empfanden ihre neue Heimat als „kalte Heimat“. Gleichzeitig wissen wir: Es waren vor allem auch Vertriebene, die unersetzbare Beiträge zum Wiederaufbau geleistet haben.

Heute sind wir wieder mit Menschen konfrontiert, die aus tiefer Not zu uns kommen, die Zuflucht suchen. Heute können wir in Niedersachsen zeigen, dass wir es besser machen. Dass eine wohlhabende Gesellschaft versucht zu helfen, wo sie helfen kann. Dass der Staat energisch und weitsichtig handelt. Und dass wir gemeinsam unsere offene Gesellschaft verteidigen, der wir alle miteinander sehr viel zu verdanken haben.

Ich bin sicher: Wir schaffen das.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Regierungserklärung des Niedersächsischen Ministerpräsidenten vom 10. September 2015

Flüchtlinge in Niedersachsen – Weltoffenheit schützen, Herausforderungen annehmen, Chancen nutzen

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